Kollektive Intelligenz, eine Definition - Teil 3

von Rainer Molzahn

Kollektive Intelligenz Definition Teil 3

 

Nachdem wir uns in Teil 1 unserer Blogreihe "Kollektive Intelligenz - eine Definition" angeschaut haben, was genau das Kollektive an kollektiver Intelligenz ist, und im 2. Teil  die Eigenschaften der öffentlichen Arena einer Gruppe spezifiziert haben, die förderlich sind für eine intelligente Meinungsbildung der Gruppe, folgt nun der dritte Teil:

 

Wie kann solch ein intelligenter Meinungsbildungsprozess konkret aussehen? 


Der den meisten von uns vertrauteste Stil, den Gruppen benutzen, um zu Meinungen und Entscheidungen zu kommen, ist die Diskussion, ist die bipolare Rhythmik von Rede und Gegenrede. Wenn es in der öffentlichen Arena überhaupt dazu kommt. ...

 

Wird einmal tatsächlich ergebnisoffen, engagiert und diszipliniert diskutiert, sind das ja schon Sternstunden eines Berufslebens. Die Regel ist eher, dass Meinungen und Entscheidungen in diskreten Hinterzimmer-Verabredungen vorbereitet und eingefädelt werden, so dass sie im ‚Plenum‘ nur noch durchgewinkt werden müssen. Wie dieser Prozess genau aussieht, ist natürlich abhängig von der konkreten systemischen Anatomie der Gruppe (Hierarchie, Mandate usw.), wie ich das in Teil 1 beschrieben habe.

Der herkömmliche Prozess in Gruppen

Wird das Plenum tatsächlich mal als das genutzt, wofür es eigentlich da ist, dann verläuft der Prozess der kollektiven Meinungsbildung fast immer nach diesen Prinzipien:

  • Gewinner/Verlierer, richtig/falsch, gut/schlecht.
  • Was öffentlich diskutiert wird, muss bereits vorher zu Ende gedacht worden sein.
  • Wenige dominieren, viele schweigen.
  • Der Tonfall ist unterschwellig bis überschwellig aggressiv.
  • Die Wahrheit liegt wahrscheinlich letztlich ‚in der Mitte‘.
  • Ohne Ergebnis war das Treffen für die Katz.

 

Ich will hier nicht sagen, dass es nicht auch Zeiten und Orte für einen solchen Diskussionsstil gibt. Wenn es aber um eine Gesprächskultur geht, die förderlich für kollektive Intelligenz ist, liegen seine Nachteile auf der Hand:

  • Es wird nicht gemeinsam gedacht, sondern es wird es wird bereits Gedachtes gegeneinander in Position gebracht.
  • Es wird eine Atmosphäre erzeugt, die manche Gruppenmitglieder entmutigt, sich überhaupt zu beteiligen. Ihre Stimmen werden nicht gehört, ihre Gedanken sind für die Gruppe verloren.
  • Themen werden früh und vorzeitig zugespitzt, obwohl sie noch gar nicht in Tiefe und Breite ausgelotet oder verstanden worden sind.
  • Es werden Kompromisse gesucht, die dann weder Fisch noch Fleisch sind.
  • Es werden in großer Eile Maßnahmen beschlossen, die oft mehr Probleme erzeugen als sie lösen.

Kollektive Intelligenz live und in Farbe

Welche Gesprächskultur ist also geeignet, Meinungsbildungsprozesse zu befördern, die den kollektiven IQ erhöhen?


Einige Kriterien habe ich in Teil 2 dieser Blogreihe schon beschrieben:

  • Sie muss die Vielfalt von Rollen, Personen und Perspektiven einladen und abbilden.
  • Sie muss die Geschlechter sich in gleichen Anteilen ausdrücken lassen
  • Sie muss alle darin unterstützen, gehört zu werden.
  • Sie muss Raum haben für das, was noch nicht perfekt zu Ende gedacht ist, damit gemeinsam gedacht werden kann.

Das Großartige ist: solche Gesprächskulturen gibt es – teils schon seit vielen Jahrtausenden, teils als Neuentwicklungen der letzten Jahrzehnte. Sie alle haben überwiegend eines gemeinsam: den Kreis. Allein die schlichte Anordnung des Gestühls macht schon einen riesigen Unterschied. Der Kreis sorgt dafür, dass alle einander gleich gut sehen und hören, dass Vielfalt und gleichrangige Repräsentation gewährleistet sind.

Kollektive Intelligenz Definition Teil 3
neurolle - Rolf / pixelio.de

Eine weitere Eigenheit dieser Gesprächskulturen ist es, dass fast nie die bipolare Dynamik von Rede und Gegenrede unterstützt wird. Bipolare Diskussionen ähneln irgendwie immer einem Tennis-Match, besonders, wenn man zuhört: der Kopf geht von links nach rechts und zurück, man hört das eine, dann das andere, man wird wie hin und her geschaukelt in den Argumenten, und die ganze Zeit wird man von den streitenden Parteien umworben, die eigene Argumentation zu unterstützen.

 

Das ruft, wie oben schon angedeutet, oft eine vorzeitige Parteinahme in der Sieger-Verlierer-Dynamik hervor.

 

 

 

 

Wenn im Kreis gesprochen wird, gibt es meist die einfache Grundregel, dass einer nach dem anderen, im Uhrzeigersinn oder gegen ihn, spricht, und dass alle still sind, während einer spricht. Man hat also keine Gelegenheit, direkt in die Diskussion einzugreifen, einfach, weil man noch nicht dran ist. Wenn man dann wieder an der Reihe ist, hat man schon wieder mehrere andere Leute zwischendurch gehört, und der eigene Geist ist bereits in andere Richtungen unterwegs, als er es in der direkten Antwort gewesen wäre.

 

Der Prozess der gegenseitigen Beeinflussung ist also multi- und nicht bipolar, und das Gruppengespräch neigt wesentlich seltener dazu, sich auf ein Entweder/Oder zu reduzieren. Jeder spricht und nimmt teil, jeder wird gehört, jeder nimmt Einfluss, jeder öffnet sich dafür, von anderen beeinflusst zu werden – einfach dadurch, dass man nicht direkt antworten kann.

 

Natürlich sind auch solche Gesprächsformen nicht die Antwort auf alles in allen Situationen. Es gibt, wie für alles auf Erden, einen dramaturgischen Ort und eine Zeit. In meiner eigenen Erfahrung sind die Kreisformen das Beste, was es gibt, wenn es darum geht, ein Thema inhaltlich und systemisch zu erforschen, bevor es darum geht, Handlungen abzuleiten. Das sind der Ort und die Zeit der gemeinsamen Meinungsbildung, wo man gemeinsam schlauer oder auch dümmer ist als allein. Dann kommen wieder die konkreten Gegebenheiten der Aufbauorganisation ins Spiel, wenn es abschließend darum geht, Maßnahmen zu definieren.

 

Im Wandelforum haben wir uns dem Anliegen verschrieben, die alte und innovative Arbeit mit dem Kreis in unsere öffentlichen TRäume zu tragen. Damit wir unseren kollektiven IQ mal ein bisschen pimpen.

Offene Fragen

Wandelforum

Zwei Sachen, die mich in diesem Zusammenhang beschäftigen, sind diese:

 

Ich habe in meiner Arbeit in Organisationen noch nie erlebt, dass etwas kollektiv Kluges herauskam, ohne dass vorher die Gesprächskultur des Kreises stattgefunden hätte. Dennoch wüsste ich nicht, dass diese Gesprächsform auch gewählt wurde, wenn kein externer Moderator dabei war. Die Leute machen das einfach nicht; und zwar eigentlich gegen besseres Wissen. Warum?

 

Die verschiedenen Schulen, die sich mit der Kreisform beschäftigen und sie praktizieren und propagieren, wissen wenig bis nichts voneinander. Warum?

 

Beide Fragestellungen sind Teil unserer Forschungsarbeit im Wandelforum.

 

 

 

Über beide mehr in den nächsten Folgen, wenn es wieder heißt: Kollektive Intelligenz, warum nicht?


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