Kollektive Intelligenz, eine Definition - Teil 4

von Rainer Molzahn

Kollektive Intelligenz Teil 4

 

Im dritten Teil dieser Reihe habe ich die erstaunliche Wirksamkeit des Sitzens und Sprechens im Kreis untersucht, wenn es darum geht, in einer Gruppe zu Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu kommen: es vermeidet vorzeitige Polarisierung, es erleichtert faire Gesprächsanteile und repräsentiert Multipolarität. 

 

 

In diesem Teil möchte ich den gegenseitigen Beeinflussungsprozess betrachten, der in einer Gruppe abläuft, die gemeinsam schlauer ist als ihre einzelnen Mitglieder. 


Der Tanz der gegenseitigen Beeinflussung

Das Paradigma ist: Die ‚Wahrheit‘ liegt nicht in der Mitte - siehe Teil 3.


„Die ‚Wahrheit‘ setzt sich nicht durch – sie scheint durch.“

Diese axiomatische Aussage des wunderbaren Hugo Kükelhaus würde ich gerne in diesem Kontext übersetzen in etwas wie:

  • Gemeinschaftliche Klugheit ist im besseren Falle kein Produkt davon, dass eine Meinung gewinnt und die andere verliert (nicht, dass das nicht auch mal so sein kann).
    Sie entsteht, wenn man in der Lage ist, die anderen zu beeinflussen – und wenn man den anderen erlaubt, das auch mit einem selbst zu tun. Dafür ist es wiederum nötig, sich nicht überzeugen zu lassen, sondern berühren zu lassen – also Empathie für die andere Meinung zu haben.

  • Um dies zu ermöglichen, ist es absolut erforderlich, die anderen nicht nur am Ergebnis, sondern am Prozess des eigenen Denkens teilhaben zu lassen – und dies auch von den anderen zu erwarten. Das heißt, sich der Rigorosität zu unterwerfen, die darin liegt, die Geschichte der eigenen Schlussfolgerungen präzise zu erzählen, und es heißt, mit genau dieser Empathie und Präzision den Geschichten der anderen zuzuhören.
  • Dieser gegenseitige Beeinflussungsprozess ist nur dann in ganzer Schönheit möglich, wenn jede beteiligte Person immer wieder bereit ist, sich aufzurichten und  nach vorne zu treten und für die eigenen Schlussfolgerungen zu werben, um dann wieder zurück zu treten, damit Kopf und Herz sich für die Geschichte der anderen öffnen können. Wie Ein- und Ausatmen.

Der Prozess des gemeinsamen Denkens

Ein Standpunkt ist eine Erzählung, die ihrer Handlung beraubt wurde.

 

Die anderen an der Handlung des eigenen Denkens teilhaben zu lassen und nicht nur
am Ergebnis, heißt konkret, die Geschichte von vorne bis hinten zu erzählen.

 

Das dramaturgische Format, das ich dafür vorschlage und mit dem ich immer arbeite, offen oder verdeckt, wenn es darum geht, kollektive Intelligenz zu erleichtern, ist das berühmt-berüchtigte 5-Grenzen-Prozessmodell (Download unten). 

 

Es beschreibt den Weg einer Information von der Wahrnehmung bis zum Handeln, so wie er sekündlich und minütlich und stündlich und täglich und jährlich und jahrhundertelich in allen von uns stattfindet – also in allen Kurzzeit- und Langzeitprozessen, individuell wie kollektiv; sozusagen das menschliche Datenverarbeitungsformat.

 

Im Zusammenhang einer kollektiven Meinungsbildung und Entscheidungsfindung lässt es sich kurz so darstellen:


(1) Wahrnehmung:

Welche Tatsachen liegen meiner Argumentation zu Grunde? 

Auf welche verifizierbaren Daten und Fakten ist sie eine Antwort?


(2) Information:

Welche Information für uns steckt in diesen Tatsachen? 

Welche Muster erkenne ich in ihnen und wie benenne ich sie?


(3) Bedeutung:

Welche Bedeutung ergibt sich aus all dem für uns?
Welche Bedrohungen bzw. Chancen, auf die wir antworten sollten?


(4) Identität:

Was beinhaltet diese Bedeutung für unser Selbstverständnis,
für unsere lieben Gewohnheiten und heiligen Kühe?


(5) Handeln:

Was sollten wir also tun, und welche Auswirkungen wird das wohl haben,
auf andere und auf uns selbst?



Wenn ich in ein Gruppengespräch gehe, sollte ich bereit und in der Lage sein, diesen ‚Signalverarbeitungsprozess‘ zu schildern, ebenso die persönliche Geschichte, die damit verbunden ist. Die ist vielleicht lang oder kurz, es gibt Dinge, über die man sich sehr sicher ist, man ist weniger sicher an anderen Stellen, und auch das ist gut zu teilen, um andere einzuladen, beim Denken zu helfen.

 

Wenn ich anderen zuhöre, versuche ich, genau diese 5 Schritte herauszuhören, und ich frage nach an den Stellen, wo es mir schwerfällt – so wie ich die anderen zu Nachfragen einlade, wo es ihnen schwerfällt.

 

Das ist der Gesprächsprozess, der sich in einem kollektiv intelligenten Gruppengespräch entfaltet. Natürlich nicht immer in Perfektion, aber je mehr, desto schlauer. Sein ‚Lebensatem‘ entspringt einer Kultur, in der es gefördert wird, sich gegenseitig zu beeinflussen.

Kollektive Intelligenz und Kollektive Dummheit

Kollektive Intelligenz Definition Teil 4
Peg van Lou

 

Welche Entscheidungen über das Handeln dann letztlich getroffen werden, ist wiederum abhängig von der spezifischen systemischen Konstruktion der Gruppe (siehe Teil 1).

 

Eins ist aber sicher: es wird kein kluges Handeln geben,

wenn es keinen Konsens über die Tatsachen gibt, die allen Schlussfolgerungen zu Grunde liegen: solange man sich nicht einig ist, dass es so etwas wie die globale Erwärmung überhaupt gibt, ist es nicht möglich, ein Gespräch zu führen, das in sinnvollen und wirksamen Maßnahmen endet.

 

 

 

 

Andersherum: wenn man sinnvolle und wirksame Maßnahmen verhindern will, ist es am effektivsten, die Tatsachen zu leugnen oder zu bezweifeln, auf die sie eine Antwort sein könnten. Aber auch an jeder weiteren Grenze des Signalverarbeitungsprozesses können Dinge passieren, die dafür sorgen, dass keine schlauen Handlungen erfolgen: irreführende Benennungen (2), Unterstellen von Bedeutungslosigkeit (3), Festhalten an alten Selbstkonzepten (4). 

Ich bin kein Romantiker des reinen Geistes. Ich weiß, dass das Denken bestechlich ist, das individuelle wie das kollektive, meins wie das der anderen. Intelligent über kollektive Intelligenz nachzudenken, beinhaltet daher, die Dinge zu studieren, die uns kollektiv dumm machen.

 

Mehr darüber im nächsten Teil, wenn es heißt: Kollektive Dummheit, hallo?

Download
5-Grenzen-Prozessmodell.pdf
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