Die Welt im Monat Mai: Hat Europa den Verstand verloren?

von Rainer Molzahn

Die Welt im Monat Mai

 

Normalerweise bemühe ich mich in dieser Blog-Reihe um ein differenziertes Verständnis von dem, womit uns die Welt konfrontiert. Diesmal ist mir sehr anders zumute.

 

Ich habe das akute Bedürfnis, die gar nicht rhetorische Frage herauszubrüllen, ob wir in Europa vielleicht völlig den Verstand verloren haben??  

 

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In gut zwei Wochen findet im Vereinigten Königreich das Referendum für oder gegen den weiteren Verbleib in der EU statt. Es sieht sehr knapp aus. Die Möglichkeit, dass ein ‚Nein‘ der Briten zur EU einen Dominoeffekt auf das gesamte Projekt Europa auslösen kann, wird jeden Tag realer. Und dann?

 

In den meisten Ländern unseres kleinen Kontinents sind Rechtsnationalisten, zum Teil mit deutlich faschistischer Ästhetik, auf dem Vormarsch oder bereits in politischer Verantwortung, alle eigentlich mit derselben Deppen-Ideologie: das Fremde beginnt quasi an der eigenen Gemeindegrenze, das Fremde ist schlecht, und wenn das Fremde erst weg ist, gedeiht das Eigene wieder, und man besäuft sich zur Feier mit Schnaps aus der lokalen Destille.

Der Stand der Dinge im Mai

Deutschland: AfD, Pegida, Attentate auf Flüchtlingsunterkünfte, muss ich noch mehr sagen? Die Chancen, dass die AfD in den nächsten Bundestag einzieht, stehen gut.

 

Frankreich: Marine Le Pen und ihr Front National könnten eine gewichtige Rolle bei den Präsidentschaftswahlen 2017 spielen. Ihr Hauptthema: die ‚Rückeroberung (!) der Souveränität'.

 

Italien: Die Lega Nord zieht nicht nur gegen den Süden, sondern auch gegen das ‚Ungeheuer‘ EU zu Felde. Sie ist noch vor Berlusconis Forza Italia die stärkste Partei im üppigen rechten Lager. 

 

Großbritannien: UKIP ist die sichtbarste Kraft, aber auch viele Konservative und desillusionierte Labour-Wähler fühlen ähnlich: die EU steht für unkontrollierte Zuwanderung und politischen Zentralismus.

 

Dänemark: die Volkspartei ist seit 2015 stärkste bürgerliche Kraft im Parlament, stützt eine rechtsliberale Minderheitsregierung. Tritt für Grenzkontrollen ein und will im Falle eines Brexit die dänische EU-Mitgliedschaft überdenken.

 

Schweden: Die Schweden-Demokraten, eine Gründung von Nazis, konnten bei den letzten Wahlen ihre Stimmen mehr als verdoppeln. Sie sind in der Opposition, haben aber die Regierung zu dramatischen Veränderungen in der Asylpolitik gedrängt.

 

Finnland: Die Partei der Finnen (früher ‚die wahren Finnen‘) ist zweitstärkste Partei im Parlament und Koalitionspartner. Tritt für eine aggressive Anti-Flüchtlingspolitik ein.

 

Baltikum: weil der baltische Nationalismus hauptsächlich anti-russisch geprägt ist, gibt es keine europafeindlichen Parteien. In Flüchtlingsfragen vertreten Litauen, Estland und Lettland ähnlich restriktive Positionen wie die anderen osteuropäischen Länder.

 

Polen: die PiS von Jaroslaw Kaczynski ist Regierungspartei. Sie ist dabei, die Gewaltenteilung abzuschaffen und stellt sich aggressiv gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen.

 

Tschechien: Präsident Milos Zeman sieht in den Flüchtlingsbewegungen eine ‚organisierte Invasion‘. Es gibt keine großen rechtsnationalistischen Parteien, aber die alte Kommunistische Partei will raus aus Nato und EU und näher ran an Putins Russland.

 

Slowakei: Die Nationalpartei ist Koalitionspartner der Sozialdemokraten. Das Land braucht die EU-Gelder, verfolgt aber auch eine aggressiv gegen Flüchtlinge gerichtete Politik.

 

Ungarn: Die Besseren und Rechteren (Jobbik) bekamen zuletzt 21% der Stimmen. Sie sind natürlich noch besser und rechter als die ohnehin schon sehr gute und rechte Regierungspartei Fidesz von Viktor Orban, den sie vor sich hertreiben: Raus aus der EU, totale Abschottung, Wiedereinführung der Todesstrafe usw.

 

Rumänien: Momentan gibt es keine explizit rechtsnationale Partei im Parlament, aber die Positionen der Sozialdemokraten und der Nationalliberalen sind schon nationalistisch, rassistisch und chauvinistisch genug. Mehrere rechtsextreme Parteien stehen in den Startlöchern.

 

Bulgarien: Die Patriotische Front stützt eine konservative Minderheitsregierung. Tritt vor allem gegen die türkische Minderheit und die Roma an. Noch rechtsextremer ist die Partei Ataka. Sie gilt als von Moskau gesteuert.

 

Griechenland: Die Goldene Morgenröte ist offen nazistisch. Sie hat eine Anziehungskraft auf Verlierer der Austeritätspolitik, ist aber im Parlament isoliert.

 

Belgien: Im Land gibt es viele separatistische Strebungen. VL (Flämisches Interesse) warnt vor einer Islamisierung Flanderns und will eine Abspaltung. Die größere N-VA (Neue Flämische Allianz) positioniert sich nicht rassistisch, will aber auch ein ‚unabhängiges‘ Flandern.

 

Niederlande: Die PVV (Partei für die Freiheit) von Geert Wilders ist drittstärkste Kraft im Parlament. Sie tritt ein für einen Einwanderungsstopp für Muslime, Abschaffung des Europaparlaments und Austritt aus dem Schengener Abkommen.

 

Österreich: Puhä, das war eng am 22.Mai. Fast wäre der Kandidat der rechtsnationalen FPÖ Bundespräsident geworden. Auch die FPÖ bringt ihre Kandidaten natürlich gegen ‚Fremdenkriminalität‘ und Asylbewerber in Stellung.

 

Kroatien: Es gibt keine explizit rechtsextremen Parteien, die Abhängigkeit von der EU ist sehr groß, aber der Kurs der regierenden HDZ (Kroatische Demokratische Gemeinschaft) hat sich nach Verlusten an rechtsnationale kleine Parteien auch scharf nach rechts gewendet.

 

Irland, Portugal, Spanien: hier gibt es keine nennenswerten rechtsnationalen Bewegungen.

 

 

Außerhalb der EU:

Norwegen: Die rechtsnationale Fortschrittspartei ist Koalitionspartner. Sie will umfangreiche Verschärfungen des Asylrechts durchsetzen.

 

Schweiz: Die SVP (Schweizerische Volkspartei) ist stärkste Partei und Mitglied der Koalition aller großen politischen Parteien. Sie positioniert sich aggressiv gegen ‚Asylchaos‘ und ‚Masseneinwanderung‘.

 

Serbien: Eigentlich gibt es in Serbien nur nationalistische Parteien, mehr oder weniger radikal. Die SRS (Serbische Radikale Partei) strebt ein anti-europäisches großserbisches Imperium an, die regierende Fortschrittspartei kommt gemäßigter daher, agiert aber sehr autoritär, kleinere Parteien propagieren xenophobe und homophobe Positionen.

 

Außerhalb Europas:

USA: Trump.

Das Muster, das verbindet, ist das Muster, das trennt ...

Was mich bei dieser tristen Aufzählung am meisten beeindruckt, bedrückt und zugleich aufregt, sind drei Dinge: 

  • Die unglaubliche Uniformität der mentalen Modelle, die den nationalistischen politischen Positionen allerorts zu Grunde liegen: gegen das Fremde aus dem Außen, gegen das Fremde im Innern.
  • Die erstaunliche Begrenzung allein schon des geographischen Horizonts, der als das Eigene, also das Innen gewertet wird.
  • Die vollkommen wundersame Annahme, dass die Herausforderungen, mit denen wir alle auf unserem Planeten konfrontiert sind, und deren Opfer natürlich die Millionen von Flüchtlingen sind, die dann in den kleinen Gehirnen der Rechtsnationalisten zu Tätern mutieren – dass diese Herausforderungen mit irgendeiner der Ideen, die da herausposaunt werden, auch nur im Ansatz zu lösen wären.

 

Und aus all diesem ergibt sich die beunruhigendste Frage:

Könnte es gleichwohl sein, dass diese völlig untauglichen Ideen Kraft genug haben, das europäische Projekt zu Fall zu bringen?

 

Debil gewinnt? 

Kleinstaaterei im Mittelalter
Kleinstaaterei im Mittelalter

Die große Wandelforums-Umfrage

Hat die Menschheit den Verstand verloren? - ja, nein, vielleicht?

 

Danke für eure rege Beteiligung und eure Kommentare.

 

Hier ist das Ergebnis:

 

 

PS: Und wenn du ein Teil der Menschheit bist, die den Verstand verloren hat, welchen Informationswert hat dann deine Antwort auf diese Frage? (Eine knifflige Zusatzfrage, aber keine Sorge: unsere Gehirnspezialisten arbeiten dran. Allerdings sind auch sie ziemlich gaga ...)


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Kommentare: 7
  • #1

    Roland (Montag, 06 Juni 2016 11:52)

    Ganz so schlimm sehe ich das noch nicht. Es gibt noch Hoffnung, weil noch nicht alle wahnsinnig im oben genannten Sinne sind, was ja auch das Erscheinen des Artikels bestätigt. Deshalb ist der Artikel wichtig - und vielleicht auch mein kleiner Kommentar!

  • #2

    Roland (Montag, 06 Juni 2016 11:53)

    Unzweifelhaft ist der Wahnsinn im Aufwind. Der Rechtspopulismus und der Rechtradikalismus sind schon seit Jahren im Werden und Wachsen. Der schlummernde Rassismus wabert an die Oberfläche und zeigt sein hässliches Gesicht - auch und gerade in Deutschland. Haben die Menschen, die unter den Fahnen der Pegida demonstrieren und AfD wählen, etwas aus der Geschichte gelernt? Wahnsinn!

    Abgesehen von der CSU wachen die anderen Parteien langsam (mehr oder weniger) auf, und positionieren sich gegen Rechts. Aber wieder viel zu spät und wahrscheinlich nur, weil sie selbst an Bedeutung verlieren (Wahlergebnisse!!). Ebenfalls Wahnsinn!

    Sehr sympathisch sind mir die "Aufrechten der Nacht", die Franzosen, die sich auf öffentlichen Plätzen treffen und miteinander über die Zukunft des Landes sprechen, getrieben von einem tiefen Unwohlsein mit vielem im Land. Wie schön wäre es, wenn wir von den Franzosen lernen... das wäre wahnsinnig gut!

  • #3

    Anne (Freitag, 10 Juni 2016 13:40)

    Die Frage ist doch, gibt es DEN Verstand der Menschheit?
    Ich glaube immer noch daran, dass es viele Menschen gibt, die ihren Verstand bewusst einsetzen.
    In der europäischen Frage lande ich gedanklich häufig beim Henne-Ei-Problem. Bekommen die Rechtspopulisten möglicherweise soviel Zuspruch, weil die Menschheit durch ihre Meinungsvertreter nicht mehr adäquat vertreten wird? Oder bricht Europa auseinander, weil die Rechtspopulisten so viel Zuspruch bekommen?
    Haben nicht schon Platon, Aristoteles und Polybios gewusst, dass politische Systeme durch die Unfähigkeit ihrer "Herrscher" durch neue politische Systeme abgelöst werden.
    Selbst in der hinduistischen Götterabfolge gibt es Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung im Kreislauf.
    Fakt ist, Europa wandelt sich. Und unsere Aufgabe wird sein, diesen Wandel wach zu erleben und aktiv in eine menschenfreundliche, tolerante und willkommenheißende Richtung zu begleiten.

  • #4

    Julian Gebhard (Dienstag, 14 Juni 2016 01:26)

    Vielleicht hat die Menschheit den Verstand verloren. Irre ist auf jeden Fall Vieles.

    Aber mal im Ernst, wann hatten wir denn wirklich Verstand? Als der Sozialstaat abgesägt wurde? Als wir einen Knopfdruck vor einem dritten Weltkrieg standen? Als wir die ersten beiden gekämpft haben? Als wir Königen und Kaisern den Hintern küssen mussten? Wir stolpern eher von einem Wahn in den nächsten. Könnten uns bei der Gelegenheit wenigsten den sympatischsten Aussuchen.
    Am eindeutigsten machen die aktuellen Entwicklungen mir aber wieder klar, dass die Geschichte des Wahns eben noch nicht geschrieben ist. Die Tinte ist noch nicht trocken. Wir sind noch mittendrin Und der Kampf um Demokratie, Toleranz und Aufklärung ist noch nicht fertig gekämpft. Und wir waren schön blöd, wenn wir dachten, es sei jemals anders gewesen.

    Der chinesische Premier wurde vor einigen Jahren gefragt ob er die französische Revolution für Erfolgreich halte. Seine Antwort?
    "Zu früh zu sagen."
    Hui. Dazu erst mal eine tiefe Verbeugung.

  • #5

    Rhino (Mittwoch, 15 Juni 2016 11:43)

    OMG:
    http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/rechtsextremismus-studie-die-enthemmte-mitte-a-1097321.html

  • #6

    Ursula (Mittwoch, 15 Juni 2016 13:43)

    Mir ist ganz schlecht geworden beim Rund-um-Blick über Europa. Danke für die ganzen Fakten. In welcher Zeit leben wir eigentlich? Kann sich nicht auch mal was zum Guten wandeln?
    Aber: was wäre gut?

  • #7

    Frederic (Mittwoch, 15 Juni 2016 13:49)

    Verstand hat doch irgendwas mit Verstehen zu tun, oder?
    Deshalb habe ich mit "ja - Verstand verloren" geantwortet.

    Ich hab gerade nicht den Eindruck, dass noch irgendwer irgendwas versteht. Selbst ich stehe ratlos davor und habe sonst immer eine sehr klare Meinung und bin gut informiert. Also habe ich anscheinend auch meinen Verstand verloren. Nur anders.
    Heißt das jetzt, dass mein Kommentar keine Bedeutung hat?

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