Kollektive Intelligenz, eine Definition - Teil 10

von Rainer Molzahn

Kollektive Intelligenz Definition Teil 10

In diesem Beitrag zur Frage, wie man gemeinsam schlauer sein kann, will ich mich Systemen widmen, die ihre Entscheidungen in Mehrheiten-Minderheiten-Prozessen beraten und fällen.

 

 

Beispiele für solche Systeme sind u.a. Teams und Gruppen ohne formelle Führung oder auch unsere demokratischen Gemeinwesen, deren Führungen ihr Mandat durch Mehrheitsentscheidungen verliehen bekommen.


Kollektive Intelligenz in demokratischen Systemen

Während in Top-Down-Systemen gilt, dass der Output nicht klüger sein kann als die Führung, gilt umgekehrt, dass die Entscheidungen eines demokratischen Systems nicht intelligenter sein können als die Mehrheit, denn die Führungen solcher Systeme müssen ja immer wieder Mehrheiten suchen, und wenn sie die verlieren, verlieren sie ihr Mandat. Das ist der inhärente Populismus der Demokratie.

 

Der kollektive IQ der Mehrheit ist nicht einfach das Ergebnis der statistischen Tatsache, dass die meisten Menschen einen mittleren IQ haben. Er hängt vor allem von drei Dingen ab: 

  • Wie gut ist die Mehrheit informiert?
  • Wie viele Mitglieder des Systems beteiligen sich überhaupt an der Meinungsbildung?
  • Welche Qualität hat der gegenseitige Beeinflussungsprozess, der einer Mehrheitsentscheidung vorausgeht?

Informiertheit

Es ist zwar noch zu früh, um es wirklich zu wissen, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit wird sich die Mehrheitsentscheidung der Briten, die EU zu verlassen, als gigantische kollektive Dummheit herausstellen. Wie wenig gut informiert diese Entscheidung war, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass die beiden Fragen, die in den Stunden nach dem Ergebnis des Referendums im Vereinigten Königreich am häufigsten auf Google gestellt wurden, diese waren: ‚What happens if we leave the EU?‘ und, der Kracher auf Platz 2, ‚What is the EU?

Was die öffentlichen Debatten im Vorfeld der Abstimmung angeht: die fand zum Teil auf erbarmungswürdigem Niveau statt.

 

Die Mehrheit der mächtigen Boulevardpresse, zu großen Teil in der Hand von Rupert Murdoch, posaunte natürlich für den Austritt. Ein älteres Zitat von Murdoch tauchte wieder auf: „Wenn ich nach Downing Street gehe, machen die was ich sage. Wenn ich nach Brüssel gehe, kriege ich keine Beachtung.“ Die gesamte Diskussion fand dann auch um so verschwurbelte wie abseitige Überfremdungsfantasien herum statt.

 

Es geht hier aber nicht in erster Linie um Großbritannien, und die Dynamiken in vielen anderen Ländern der EU, die sich um Fragmentierung versus Globalisierung entfalten, sind auch nicht besser informiert als die im Vereinigten Königreich.

Beteiligung

Im Kontext kollektiver Intelligenz ist festzuhalten, dass demokratische System dann, und eigentlich nur dann, kluge Entscheidungen treffen können, wenn ihre Mitglieder, die ja die Souveräne dieser Systeme sind, gut ausgebildet und gut informiert sind.

 

Die Gemeinschaft muss die gute Ausbildung zur Verfügung stellen, für seine Informiertheit ist jeder selbst verantwortlich. 

 

Demokratische Systeme bieten ihren Mitgliedern in der Regel das Privileg, nicht mitreden und nicht mit entscheiden zu brauchen, wenn die das nicht wollen. Die Höhe der Wahlbeteiligung ist ein ganz anschaulicher Indikator für das Ausmaß, in dem sich die Leute am kollektiven Willensbildungsprozess beteiligen. Wie wir alle wissen, sinkt diese Prozentzahl in den westlichen Demokratien seit Jahrzehnten stetig, und zwar besonders stark unter den jungen Menschen. Der demokratische Souverän macht seinen Job nicht. Als hätte er vergessen, dass seine oberste Verpflichtung darin besteht mitzureden – und zwar besonders deswegen, weil ihn niemand dazu zwingen kann.

Qualität der Diskussion

Was den dritten Faktor der kollektiven Intelligenz demokratischer Systeme angeht, die Qualität der Debatte, verweise ich an dieser Stelle auf Teil 3 und Teil 4 dieser Reihe. Dort habe ich die Kultur der öffentlichen Arena beschrieben, die förderlich für gemeinschaftliche Klugheit ist.

Verschmelzung von öffentlicher und privater Sphäre

Hier möchte ich noch einem anderen Gedanken nachgehen:

Kulturen entwickeln sich in der Dynamik zwischen ihren öffentlichen und privaten Sphären.

 

Beide sind scharf voneinander abgegrenzt, und das hat für die Dynamik zwischen ihnen weitreichende Folgen. Die Entwicklung des Internets und speziell der sogenannten sozialen Medien hat die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre wenn nicht aufgehoben, so doch erheblich aufgeweicht.

 

Es sind in diesem Prozess virtuelle, quasi-öffentliche Räume entstanden, in denen es, auch weil man oft unter einem ‚Benutzernamen‘, also anonym auftreten kann, viel leichter ist als in den ‚physischen‘ Öffentlichkeiten, frank und frei seine Gedanken und Gefühle auszudrücken.

 

Die Hoffnungen, dass diese Freizügigkeit zu einer größeren ‚Schwarm-Intelligenz‘ führen würde, hat sich in den meisten Fällen nicht bewahrheitet. Im Gegenteil.

Das Niveau vieler Diskussionen in Internetforen und Chaträumen ist geradezu geistig erbärmlich, häufig geschmacklos und obszön, manchmal brutal und vernichtend. Debil gewinnt, mal wieder. Es tut kollektiver Intelligenz nicht gut, die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre völlig aufzuheben.

 

Ich will hier nicht allgemein gegen soziale Medien und so weiter meckern. Mir fallen viele Situationen ein, in denen sie kollektive Meinungsbildungsprozesse inspiriert und beschleunigt haben.

 

Mein Punkt ist in unserem Zusammenhang: Kollektive Intelligenz gibt es nicht, wenn das Individuum im Kollektiv verschwindet, anonym wird, nicht für seine Beiträge zur Rechenschaft gezogen werden kann. Kollektive Intelligenz braucht die Verantwortlichkeit jeder einzelnen Person. Sie setzt sie sogar voraus, und dies ganz besonders in demokratischen Systemen.


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