Interpunktion in der Eskalation - übernehmen wir Verantwortung!

von Ulrike Linz

Interpunktion in der Eskalation

Und wieder ein Terroranschlag – von Menschen auf Menschen verübt.

 

 

Es ist schwer, sich das Geschehen in Paris zu vergegenwärtigen und sich nicht irgendeine Form von Strafe oder Vergeltung zu wünschen für Taten, die so gezielt und gleichzeitig so wahllos grausam und vernichtend sind weil sie maximale Verletzung und Angst in Bevölkerung und Staaten hervorrufen wollen ohne damit irgendwelche positiven Ziele zu verfolgen. Es soll verletzt, zerstört, vernichtet, Schrecken und Angst erzeugt, Macht demonstriert werden. 


Alles, was geschehen ist, ist entsetzlich.

Gut zu hören, wenn weltweit die wechselseitige Versicherung und Ermutigung ausgesprochen wird, die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft, die immer eine bedrohte sein wird, verteidigen zu wollen.  

Verteidigen – wie ist das gedacht?

Stimmen hier noch das Reden von „unsere Werte schützen“ und das dafür angestrengte Handeln überein?

 

Ich freue mich, dass die deutsche Regierung darauf verzichtet, die in unzähligen Stellungnahmen und Artikeln von Politikern und Journalisten gewählte Rede von „Krieg“ (Sarkozy spricht in (Un?!-)Kenntnis der Geschichte gar vom „totalen Krieg“) abzulehnen.

 

Denn Krieg – das lässt eigene Gewalt und weitere Übergriffe auf die freiheitliche Ordnung als angemessen betrachten und erlauben. Massive Bombardierung vermuteter IS-Stellungen, Ausnahmezustand, Ausweitung der Überwachung, nicht legitimierte Kontrollen und Hausdurchsuchungen - alles nun scheinbar zulässig, ja angezeigt und somit das rechte Mittel der Wahl.

 

Man könnte einwenden, wir erlaubten ja nur Gewalt, die auf Gewalt reagiere. „Wir würden ja nicht, wenn nicht vorher...“ Paul Watzlawick, der Kommunikationswissenschaftler, nennt das Phänomen „Interpunktion"

I. Rasche / pixelio.de
I. Rasche / pixelio.de

Jeder setzt den Punkt oder Doppelpunkt in einer Auseinandersetzung anders und sieht den jeweils anderen in der Verantwortung der nächsten Eskalationsstufe.

 

Der andere hat ja angefangen. Wir sind im Recht mit unserer Reaktion. Es ist quasi notwendig, weil wir uns verteidigen müssen. 

 

Die Terroranschläge in Paris aber waren kein Anfang, kein Auftakt zu Gewalt: es sind in den durch westliche Mächte initiierte oder finanzierte Kämpfen von Afghanistan bis Syrien bereits weit über eine Million Menschen gestorben. Die Mehrzahl von ihnen friedliebende Muslime. 

 

 

 

Faktisch verstoßen wir damit aber genau gegen die Rechte und Werte, die wir doch zu verteidigen vorgeben. Kann man ernsthaft behaupten, Werte zu schätzen, hochzuhalten und gar zu retten, indem man sie verletzt?

 

Man kann es behaupten, aber es ist eine Täuschung. Ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt. Es ist schlechterdings nicht möglich, was behauptet wird.

Auf der Suche nach einer Alternative

Ebenso wie jede Form von Gewaltanwendung in Erziehung oder Lernprozessen - und zur Gewalt gehören bekanntermaßen nicht nur Formen physischer (Schläge) und psychischer (Beschimpfungen, Erniedrigungen) Gewalt, sondern auch alle Ausprägungen von struktureller Gewalt (Ausschluss und Selektion) – die Würde eines Kindes verletzt, die es zu schützen vorgibt und die durch das Mittel der Angst Wirkungen zeitigt, von denen Anpassung und Zurückhaltung nur scheinbar zu den weniger problematischen gehören. 

 

Aber was denn dann, wenn nicht Kampf, Rache, Vergeltung?

 

Vielleicht viel einfacher und viel schwerer: anerkennen, was ist.

  • Anerkennen, dass die Täter Menschen waren wie wir.
  • Anerkennen, dass Gewalt eine Sprache ist, die wir alle kennen, eine Antwort, wenn auch eine grausame und - in aller zerstörerischen Kraft - eine im Prinzip hilflose.
  • Und dann: Nachdenken, ob die eigene Interpunktion in der gegenwärtigen Situation etwas übersieht.

Das ist eine simple Wahrheit und vielleicht eine Zumutung.

 

Aber wir dürfen nicht leugnen und vergessen, dass es Menschen sind wie wir, die in Paris gemordet haben. Dass Menschen genau dazu fähig sind. Jeder und jede von uns.

Welchen Wolf füttern wir?

So wie es eine Geschichte der Navajo - Indianer illustriert:

 

Der alte Häuptling saß allein mit seinem jüngsten Enkelsohn am abendlichen Lagerfeuer. Es war schon dunkel und das Feuer knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten. Beide blickten stumm und gedankenverloren in die knisternde Glut.

Markus Walti / pixelio.de
Markus Walti / pixelio.de

Nach einer Weile des Schweigens sagte der Alte zu dem Jungen: “Weißt du, wie ich mich manchmal fühle? Als ob in mir ein Kampf stattfindet – Es ist ein fürchterlicher Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist übel – er ist Wut, Missgunst und Gewalt, Gier, Überheblichkeit und Selbstmitleid, Schuld, Ärger und Minderwertigkeit. Der andere ist freundlich – er ist Freude, Liebe, Hoffnung, Gelassenheit und Güte, Großzügigkeit und Dankbarkeit, Mitgefühl und Vertrauen.

 

Der gleiche Kampf findet auch in Dir statt – so, wie in jeder anderen Person.”

Der Enkel überlegte kurz und fragte dann seinen Großvater: „Und welcher Wolf wird gewinnen?”

 

Der alte Häuptling erwiderte: „Wer die Schatten nicht kennt, kann das Licht nicht sehen; Wer das Licht nicht kennt, kann die Schatten nicht verstehen – Gewinnen wird der Wolf, den Du fütterst!”

Die Welt wird nicht besser, wenn wir zu wissen glauben, wo das Böse ist und wie wir es ausschalten. Wenn wir nicht das menschliche und damit das eigene Potential zu Gewalt sehen, bekämpfen wir etwas im Außen, was auch in uns wohnt, und wir versäumen, die Schritte zu tun, die einen Unterschied machen können. Denn die Welt kann ein friedlicherer Ort werden, wenn bzw. wo wir bei uns beginnen.

 

Wenn wir eine friedlichere Welt wünschen, kommen wir nicht darum herum, in unser Herz zu schauen. Wir können nur bei uns beginnen und uns mit dem beschäftigen, was in uns strafen, morden, rächen will. Und wir können die Fragen versuchen: „Wo hat die Gewalt begonnen?“ „Was ist mein Anteil an der Situation?“

  

Da geht es los – dort beginnt die gehasste Nähe zum – sich und andere - mordenden Mit-Mensch aus Paris. 

Und dann?

Wir können uns fragen und uns Antworten erlauben:

  • Fragen, was wir tun, um den Wolf zu füttern, der bereit ist für Verständigung und Miteinander.
  • Fragen, was wir tun, um die eigene Wut in uns in Zaum zu halten und nicht gewalttätig zu werden – mit Worten oder Taten.
  • Fragen, was wir tun, um die strukturelle Gewalt zu mindern, in der wir als Profiteure eines Wirtschaftssystems stehen und die wir mit vielen Konsumaktivitäten unterstützen
  • Fragen, was wir tun, um auch Frustration, Perspektivlosigkeit und Hass zu verhindern.

 

Und noch ein Letztes:

Es kann dazu kommen, dass Gewalt unausweichlich erscheint.


Dietrich Bonhoeffer hat sich angesichts der Vernichtungsarbeit der Nationalsozialisten unter der Führung von Adolf Hitler dafür ausgesprochen, Hitler zu ermorden. 


Aber – und das ist das entscheidende – er hat damit weder Gewaltanwendung noch Mord als legitimes Mittel erklärt gegen den Terror und den organisiertem Massenmord des Naziregimes. Stattdessen hat er angesichts der erkannten Notwendigkeit „dem Rad in die Speichen zu fallen“ und nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, gefordert, darin eine schuldhafte Tat zu erkennen: Leben zu töten bleibt schuldhaft und – auch wenn es als  letztes mögliches Mittel zur Verhinderung größeren Unglücks geboten scheint – kann immer nur und einzig von dem- oder derjenigen, die sich dazu entscheidet, vor dem eigenen Gewissen verantwortet werden. Als Antwort, derer ich mir bewusst bin.

 

Es gibt keine Entschuldigung für Mord, es gibt keine Rechtfertigung für Terror.

 

Aber es gibt Verantwortung als Antwort. Wir können sie annehmen. 


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Kommentare: 2
  • #1

    Birgit (Montag, 14 Dezember 2015 17:23)

    Wohltuend einen Beitrag zu lesen, der im Zusammenhang mit den Attentaten die Rede von Krieg und Dauer-Ausnahmezustand in Frage stellt und nebenbei nach unserem persönlichen Umgang mit Konflikten und Gewalt fragt. Wenn wir uns die Geschehnisse in Paris in einem größeren Kontext vor Augen führen, merken wir schnell, dass die Einteilung von Gut und Böse mal wieder nicht richtig aufgeht.
    Meine Bewunderung gilt vor allem den Angehörigen der Opfer, denen es gelingt, hier dem Wolf der Wut, der Verzweiflung und Vergeltung nicht die Oberhand zu lassen, wie es z. B. in dem Brief von Antoine Leiri deutlich wird, der seine Frau und die Mutter seines Sohnes verloren hat. „Vous n´aurez pas ma haine (Ihr werdet meinen Hass nicht bekommen)“, ist seine Antwort auf die Tötungen des 13. Novembers. Er wird seine Liebe und sein Glück nicht der Rache und der Zerstörung opfern, sondern alles dafür tun, seinen Mitbürgern weiterhin in Freiheit und Vertrauen zu begegnen. Hut ab!

  • #2

    Ulrike (Montag, 14 Dezember 2015 20:35)

    Danke für diesen Kommentar und den Hinweis auf die beeindruckende Haltung von Antoine Leiri, die mich sehr berührt. Und die mir zeigt und mich aufrüttelt, dass wir immer eine Wahl haben und frei sind, wie wir uns zu dem stellen, was uns widerfährt. Ich brauche viel Ruhe, um mir diese innere Klarheit und das Bewusstsein meiner Freiheit zu bewahren - gerade in einem Alltag mit 1000 Forderungen und Ablenkungsangeboten. Darum nehme ich mir die Antwort Leuris als Merk-Mal und schließe ich mich an: Hut ab!

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