Menschenpflichten - Dialog Teil 1

von der Projektgruppe Menschenpflichten

Menschenpflichten Dialog 1

 

In einem schriftlichen Dialog haben wir uns im Sommer und Herbst Zeit genommen. Zeit für Resonanzen, Zeit für Verbindung, Zeit für erste Erkundungen zum Thema Menschenpflichten

 

Unsere Projektgruppe besteht im Moment aus: Albert Glossner, Anne Grökel, Boris Leithäuser, Franziska Hengl, Hildegard Mackert, Marina Öder, Peggy Kammer, Rainer Molzahn und Steffi Mademann. 


Die Frage "Wie lebt man" bewegen wir schon seit geraumer Zeit (siehe auch den Dialog zwischen Rainer und Boris dazu). Mittlerweile ist sie zu einem Schwerpunkt, zum Mittelpunkt, zu einer Leitfrage für unsere Bemühungen geworden. Die Idee, dass wir uns dem Thema Menschenpflichten widmen, ist aus verschiedenen Gesprächen innerhalb wie außerhalb des Wandelforums erwachsen.

 

Um das gedankliche Feld in aller Gründlichkeit und Tiefe zu beackern und uns selbst mit der Idee der Menschenpflichten zu verbinden, haben wir im ersten Schritt einen Dialog angezettelt. Und dieser Dialog ist ein Auftakt.

 

Die Reihenfolge der Sprechenden (also Schreibenden) war eine Funktion von Verfügbarkeit, Dringlichkeit und Höflichkeit. Wir fühlen uns frei, diese Reihenfolge im weiteren Prozess unserer dialogischen Erkundung zu ändern ... 

Steffi

(22/07/17)

 

Ich bin die erste in unserem schriftlichen Dialog und möchte mich ganz kurz vorstellen:

Ich heiße Steffi. Ich bin 44 Jahre alt und im Hauptberuf Ergotherapeutin mit den Fachrichtungen Pädiatrie und Psychiatrie (und nach 23 Jahren im bunten Praxisleben habe ich schon viele Einblicke in verschiedene Richtungen bekommen). Seit 2018 bin ich auch transformative Coach mit einer selbständigen Nebentätigkeit. Und ich bin Mutter von 2 wunderbaren Töchtern. Anfangs werktags-alleinerziehend, bin ich seit über 7 Jahren offiziell-alleinerziehend – mit allen Vor- und Nachteilen, die dieser Status mit sich bringt. 

 

Ich bin nicht gerade der Typ fürs „Ganz-Groß-Denken“. Das habe ich als Kind versucht, wurde dafür belächelt und nicht ernst genommen. Und doch ist in mir drin der Wunsch geblieben, mein(e) Leben(sweise) in Übereinstimmung zu bringen mit dem Leben(digen). Da gibt es einen Kompass in mir, der manchmal recht zuverlässig anzeigt, dass es in eine gute Richtung geht und sich manchmal auch ganz wild dreht, wenn ich Sch… baue. Den Begriff mit dem Kompass habe ich in Gerald Hüthers Buch „Würde“ gefunden. Dieses Buch hat in mir damals Hoffnungen geweckt.

 

Die Hoffnung, dass es immer noch gut werden kann, weil jeder von uns diesen Kompass in sich hat. Wir haben nur verlernt, auf ihn zu hören. Hoffnung, weil wir das wieder lernen können, wenn wir von Menschen umgeben sind, die ihren Kompass spüren und als Leitsystem verankert haben. Hoffnung, weil es eine naturgemäße Sehnsucht nach dem „Leben“ gibt. Ich kann diese Sehnsucht hören, z.B. jetzt gerade in dem Lied, dass aus dem offenen Küchenfenster der afrikanisch-stämmigen Nachbarin klingt, auch wenn ich den Text nicht verstehen kann. 

 

Und gleichzeitig sprechen die täglichen Nachrichten eine andere Sprache. Eine lebensvernichtende Sprache und düstere Aussichten, so dass man nur noch resignieren möchte, weil es Angst macht, die nicht auszuhalten ist. Und ich möchte weinen und schreien, vor Wut, was wir hier zulassen, vor Trauer, um das, was wir bereits verloren haben, vor Scham, weil auch ich ein Teil davon bin und vor Angst, um meine Kinder. 

 

Deshalb bin ich so interessiert an unserem Austausch und den Menschenpflichten. Ich denke, wir brauchen diese Menschenpflichten auf dem Weg dahin, unseren Kompass wieder zu justieren. Die Menschenpflichten würden insbesondere meiner Generation (welche die nächste Generation begleitet) und der Generation vor meiner (die jetzt in den meisten Entscheidungspositionen sitzt) eine Art Leitlinie sein. Und mein größter Traum ist es, dass die Kinder von heute oder wenigstens die von morgen, ihren angeborenen Kompass einfach behalten dürfen (denn der ist ja von Anfang an da) und ihn nicht erst im Erwachsenenalter wieder neu erarbeiten müssen. Und vielleicht dürfen wir ja in diesem Punkt von unseren Kindern lernen? Auch eine Möglichkeit.

 

Huch, jetzt habe ich ja doch größer gedacht, als ich wollte. Wie konnte mir denn das passieren? Dann will ich mich doch mal schnell wieder ins Kleine, ins Alltägliche flüchten, denn da fühl ich mich zuhause. Da begegne ich den Menschen und genau da möchte ich wirksam sein (wohl wissend, dass sich das Große auch im Kleinen findet).

 

Und wenn ich dabei einen von den vielen möglichen Punkten herausgreifen möchte, dann den: 

Wie wollen wir miteinander umgehen. Wie wollen wir zusammen leben, lieben, arbeiten, streiten, entwickeln. Und, mein Herzensthema, wie wollen wir unsere Kinder aufwachsen lassen und sie vorbereiten auf das, was wir ihnen hinterlassen. Hier fühle ich für mich die größte Verantwortung, die ich nicht ignorieren kann und will.

 

Und jetzt gebe ich diesen Ball weiter an dich, liebe Hildegard. Was verbindet dich mit den Menschenpflichten oder auch Menschengeboten? 

Steffi Mademann

www.steffi-mademann.de


Hildegard

(22/07/25)

 

Danke, Steffi, für die Übergabe an mich, (mindestens) eine Generation weiter. Es fühlt sich gerade sehr herausfordernd an, zu unserer ersten Runde etwas zu schreiben – und es könnte emotional werden …

 

Ich sitze in meinem relativ kühlen Zimmer, das Rollo ist runtergezogen, draußen: 34 Grad, strahlende Sonne. Wie kann ein solcher Sommertag nicht willkommen sein? Das Problem ist allen bekannt: es gibt zu viele davon – und es regnet nicht. Zumindest fast nicht in Berlin und Brandenburg. Und nicht nur brüllt die Sonne, auch brennen Wälder, es tobt ein Krieg in der Ukraine, einige EU-Staaten machen sich auf einen strammen Weg nach rechts oder weit rechts, Energie- und Finanzmärkte sind erschüttert… ach, ich mag gar nicht alles aufzählen.

 

Und meine Enkelin ist zwei Jahre alt und so zart. Und stark. So optimistisch und neugierig. So zugewandt und fröhlich.

Wie soll ich ihr das Desaster erklären, das wir hinterlassen (haben)? Wie soll ich rechtfertigen, dass meine Generation mit ihrem maßlosen Lebensstil, ihren immer neuen und größeren Konsumwünschen, ihrem Energiehunger und ihrer Gier zu haben, zu haben, zu haben, verantwortlich ist für die Krisen, in denen wir jetzt stecken. Consumo ergo sum. 

 

Nächstes Jahr werde ich 70 und ja, ich fühle mich verantwortlich, schuldig. Schuldig, weil ich nicht viel früher viel lauter war, weil ich zu wenig gehandelt habe, obwohl wir alle wussten, dass sich etwas ändern muss, schon seit 1972, als der Club of Rome seinen ersten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte. 1972!! Und viele, viele Berichte und Alarmrufe von unterschiedlichen Akteuren folgten.

 

Wir wollten nicht hören. Anderes war wichtiger. Wir wollten den Unterschied zwischen gut leben und viel haben nicht genauer erforschen. Erstaunlich, wie ein menschliches Gehirn Unangenehmes, Beängstigendes oder einfach nur Unbequemes einfach abspalten kann. Darüber sollten wir noch einmal nachdenken und Ideen entwickeln, wie wir diese Grenze wenigstens aufweichen können.

 

Aber: Jetzt ist jetzt und ich will, dass meine Tochter, meine Enkelin und alle nachfolgenden Generationen ein gutes Leben führen können. In Frieden.

 

Deshalb ist es meine verdammte Pflicht, mich nicht in Schuldgefühlen zu verkriechen, sondern sie zu verwandeln in Einmischung. Dazu braucht es für mich Gemeinschaft und Mitstreiter*innen. Und ich persönlich brauche auch eine gute Extraportion Mut. 

 

Denn: Ich finde, wir haben viel wieder gutzumachen.

Also los.

 

Und jetzt spiele ich Generationen-Ping-Pong und gebe ich weiter an dich, liebe Anne, und bin gespannt darauf, was du zu sagen hast. 

Hildegard Mackert

www.tiefenblau.net


Anne

(22/07/27)

 

Ganz lieben Dank, Hildegard, für das Teilen Deiner Gedanken.

 

Als der Begriff "Menschenpflichten" in meiner Gegenwart das erste Mal gefallen ist, hat er sich sehr lange in meinen Gedanken verheddert und diese ordentlich in Aufruhr gebracht. Es gab plötzlich ein Wort, was meine ständigen Störgefühle bei den verschiedentlichen Ausrufen nach Freiheit benannte.

 

Ich bin in einer Generation geboren, die selbst von der eingeschränkten Freiheit der DDR nur noch am Rande etwas mitbekommen hat. Trotzdem spüre ich, dass die Sozialisation der Menschen in diesem Teil Deutschlands tiefe Spuren hinterlassen hat, auch wenn 40 Jahre im Vergleich zur Menschheitsgeschichte verschwindend gering sind. Ich bin gern ein freier Mensch. Dem Wunsch nach Freiheit spricht also aus meiner Sicht nichts entgegen.

 

Vor etwa drei Jahren haben meine Töchter begonnen, mit Fridays for Future auf die Straße zu gehen. Als ich sie an einem Freitag dorthin begleitete, hatte ich Empfindungen, die mich sehr verstörten. Zum einen war ich unheimlich stolz auf meine engagierten Töchter und erinnerte mich an meine euphorischste Phase, die Welt aus den Angeln zu heben, die ich in einem ähnlichen Alter hatte. Zum anderen war ich zutiefst beschämt, was für triviale Probleme mich damals dazu bewogen haben, die Welt aus den Angeln heben zu wollen. Tatsächlich fragte ich mich da das erste Mal, in was für eine Welt ich eigentlich meine großartigen Töchter geboren habe und ob das nicht alles ganz schön egoistisch und verantwortungslos von mir war. Es wurde mir so körperlich spürbar bewusst, wie sehr der Zustand unserer Welt mit mir und vor allem mit meinen Kindern zu tun hat, dass es seither nicht mehr wegzudenken ist.

 

Ich habe lange genug die Freiheit genossen, jeden Tag im Supermarkt mein abgepacktes Lieblingsobst und billiges Fleisch zu kaufen. Ich kann es mir zwar leisten, aber wenn ich nicht anfange, die Verantwortung dafür zu übernehmen, was diese Produkte uns langfristig kosten werden, dann hätte ich die Botschaft nicht verstanden.

 

Ich sehe so viele Menschen, die für diese vermeintliche Freiheit auf die Straße gehen. Die sich bestehenden gesellschaftlichen Regularien widersetzen und dabei gleichzeitig den Rechtsstaat in Gefahr sehen. Die skandieren, dass sie das Volk sind und gleichzeitig kein solidarisches Grundverständnis mehr haben. Sie hebeln selbst aus, was sie angeblich schützen möchten. Das ist keine Freiheit, das ist Anarchie. Freiheit funktioniert nur, wenn wir verantwortlich sind. Verantwortung übernimmt man, indem man sich bestimmten Werten verpflichtet. Die wichtigsten Werte einer friedlichen Gesellschaft sind nicht materieller Art, sondern sowas wie Solidarität, Menschlichkeit und Mitgefühl.

Und wenn friedliche Gesellschaften auf unserer Erde weiter existieren wollen, dann sollten wir alle Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass diese Erde weiterhin ein bewohnbarer Planet bleibt. Das können wir schaffen, wenn alle ihren Beitrag dazu leisten und sich dieser Verantwortung verpflichten.

 

Ich möchte mit Euch gemeinsam Gedanken spinnen und Szenarien entwickeln, wie Menschenpflichten aussehen können, die unserem Planeten und unserer Gesellschaft Heilung bringen können. Dafür gibt es keinen Aufschub mehr, die Deadline ist eh schon überschritten.

 

Damit spiele ich den Ball weiter an Peggy und freue mich schon auf Deine Gedanken dazu.

 

PS: Müssen Finanzminister eigentlich auch schwören, Schaden vom Volke abzuwenden? Ich frage für einen Freund.

Anne Grökel

www.wirksam-wandeln.de


Peggy

(06/08/22)

 

Liebe Gruppe, ufftala.

Danke für den Ball und für eure Gedanken. Sie sind sehr kraftvoll und berühren mich gerade sehr.

 

Die Idee der Menschenpflichten kommt mir so logisch und folgerichtig vor, dass ich mich frage, warum wir nicht schon eher darauf gekommen sind. Danke an dich, Rainer, dass du den Ball in die Luft geworfen hast.

 

Seit ich halbwegs klar denken kann, beschäftigt mich die Frage, wie man als Mensch ein gutes und sinnvolles Leben führen kann. Die Suche führte mich über verschiedene philosophische, psychologische und künstlerische Stationen. Wir sind heute so „frei“, dass scheinbar alles möglich ist, es keine Grenzen gibt. In dem ganzen „höher-schneller-weiter“ verbunden mit ausufernden Ego-Verwirklichungs-Mantras ist jegliche Orientierung verlorengegangen.

Alles kann, nichts muss. Das ist die Freiheit, die ich nicht meine. 

 

Ich bin weiterhin und trotzdem zutiefst überzeugt, dass tief drinnen in jedem Menschen eine zarte, aber auch kraftvolle Instanz ist, die weiß, wenn wir unser Leben – das Leben – verfehlen. Sie merkt, wenn unser Handeln nicht richtig ist, wenn wir den guten, wahren und schönen Pfad verlassen. Und es gibt mir immer wieder Hoffnung, dass wir dorthin durchdringen können.

 

Was ich an den Menschenpflichten besonders reizvoll finde, ist die klare Orientierung: ein einfacher, ja natürlicher Leitfaden, der mit unserer inneren Instanz resoniert und sie bestärkt und gedeihen lässt.

 

Ich glaube und hoffe, dass sie die scheinbaren Widersprüche zwischen dem individuellen Wohlergehen und dem der Erde und ihrer Geschöpfe auflösen und ad absurdum führen. 

 

Und damit gebe ich den Ball weiter an Boris und bin gespannt, wie sich unser gemeinsamer Faden hier weiterspinnt.

Peggy Kammer

www.peggy-kammer.de



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Kommentare: 1
  • #1

    Sandra (Mittwoch, 14 Dezember 2022 17:52)

    Danke für Eure tollen und vielfältigen Denkanstöße... ♡
    Ich bin schon ganz gespannt auf die nächsten Beiträge �

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