Wie lebt man? - Akt 5: Katastrophe oder Katharsis

von Rainer Molzahn & Boris Leithäuser

Wie lebt man 5

 

 

Der vorläufige Abschluss des Dialogs zur Frage "Wie lebt man?".

 

Er mündet in die Frage "Wie stirbt man?" und was man am Ende vielleicht bereut ... 


Akt 5:

In welchem sich das Ergebnis des dramatischen Informations-Bedeutungs-Prozesses manifestiert. Er kann als Drama enden (Katastrophe), oder als Komödie (Dénouement). Oder um es in den Konstrukten des 5-Grenzen-Prozessmodells zu beschreiben: die Grenze gegen die Veränderung des Handelns …


Rainer IX

(antwortet auf Boris VIII, Akt 4)

 

Lieber Boris, ich resoniere mit allem, was du sagst – mir jetzt gerade egal, ob das zu harmonisch ist. Und gleichzeitig teile ich dein Bedürfnis/dein Anliegen/deine Intervention, mehr Diversität, mehr Polarisierung, mehr Spannung einzuladen. Als ich dein letztes Pong las, und immer wieder mal unterwegs, flog mich die Fantasie an, an welcher jeweiligen Grenze unseres ganz persönlichen Entwicklungsprozesses wir wohl gerade stehen. Vielleicht ist unsere improvisierte, situative Antwort auf diese Frage eine würdige Coda unseres Dialoges bis hierher. Jedenfalls fang ich mal an mit dem Aufhören …

 

Ich glaube, meine aktuelle Prozessgrenze ist vielleicht eine etwas andere als deine – ich bin ja schließlich ein paar nicht unerhebliche Jahre älter, und ich habe mich vor nunmehr 30 Jahren auf den Weg gemacht, meiner wissenschaftlichen Gemeinschaft Goodbye zu winken und meine eigene aufzumachen. Meine Anmutung ist, dass du diesen Schritt – aus sehr guten und nachvollziehbaren Gründen – so nicht vollzogen hast (meine Arbeit mag in ihren besseren Teilen kulturrelevant sein, aber deine ist mit Sicherheit ‚systemrelevant‘). 

 

Die persönliche Grenze, an die ich immer wieder stoße, in unterschiedlichen Ausmaßen von Sanftheit, ist: Ich habe bei weitem bislang nicht die Pusteblumen-Resonanz erzeugen können, die ich mir ersehnt hatte, und die ich immer noch nicht völlig aufhören kann zu ersehnen. Ich habe mittlerweile mindestens 4 einschlägige Bücher veröffentlicht, mindestens 3 Gemeinschaften (mit-)gegründet, mindestens 2 Nobelpreise verdient (meiner eigenen bescheidenen Selbsteinschätzung gemäß😆), aber die Samen, die ich mit ein bisschen Hilfe von meinen Freund*innen in die Welt atme, fallen immer noch zu 97 ½ Prozent auf Beton.

 

Das heißt, ich verhandle immer wieder mit dem, was systemrelevante Kollegen wahrscheinlich als Altersdepression diagnostizieren würden, wenn sie es müssten. Und gleichzeitig lebe ich in der fast unerschütterlichen Gewissheit, dass ich nicht spinne. Dass es nichts, oder sehr wenig, in meinem persönlichen Informations-Bedeutungs-Prozess gibt, was mich aufruft, an der Integrität meine Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen ernsthaft zu zweifeln. Also puste ich weiter. Es fühlt sich immer noch besser an es zu tun, als es nicht zu tun.

Und du?

 

 

Boris IX

Deine Zeilen haben noch im Lesen zwei Impulse in mir erzeugt. Erstens: die Frage ‚wie lebt man? ’ ist, zumindest in Deinem biblischen Alter 🤓, untrennbar mit der Frage verbunden ‚wie hat man gelebt?‘  („Arbeit an Grenze 6“).

 

An zweiter Stelle, unmittelbar danach, kam mir der Gedanke an den Hauptmann von Köpenick, Wilhelm Vogt, und seine Worte

 

„Und denn stehste vor Gott dem Vater und der fragt dir ins Jesichte:

Willem Voigt, wat haste jemacht mit deim Leben?

Und da muss ick sagen- Fußmatte, muss ick sagen. Die hab ick jeflochten im Jefängnis und denn sind se alle druff rumjetrampelt.

Muss ick sagen.

Und zum Schluss haste jeröchelt und jewürcht um det bisschen Luft, und denn wars aus.“

 

Jeder hat seine Fußmatte und – jetzt kommt‘s – die absolut alleinige, unveräußerliche, nicht wegnehmbare Deutungshoheit über Sinn und Wert derselben. Sind es nun 97 1/2 Prozent der Pusteblumensamen auf Beton oder 2 1/2 auf fruchtbarem Boden?

 

Aber was mich bei diesem Gedanken bis vor nicht allzu langer Zeit angepiekt hat, war, dass auch diejenigen die Deutungshoheit unantastbar haben, denen wir, die Stigmatisierer, dies absolut nicht zugestehen wollen: Diktatoren, Staatsoberhäupter mit narzisstisch-antisozialer Persönlichkeitsstörung, Umweltverschmutzer, Lehman Brothers, Pädophile, Kettenraucher, Schalke-Fans und Glyphosat-Versprüher!

 

Sie alle können ihre eigene Fußmatte als die beste jemals geflochtene kategorisieren. Und das „gleichviel, ob jemand da ist, der sie – jetzt oder später – zur Verantwortung zieht (siehe Hans Jonas). Dafür haben wir das Jüngste Gericht erfunden und die Wiedergeburt. Irgendwann muss doch mal amtlicherseits festgestellt werden, dass man auf der Seite derer steht oder gestanden hat (R.I.P), die alles richtig und zu unserer vollsten Zufriedenheit erledigt haben.

Und die anderen eben nicht.

 

Wir beide, die „Guten“, die Helfer und Heiler, mit dem Anspruch, eine bessere Welt zu hinterlassen, gehen mit dem Gedanken ins Bett, zu wenig, nicht alles getan zu haben. Doch, haben wir! Per Definition, weil wir alles gegeben haben, was wir geben konnten. Und wir machen weiter, machen Angebote, strecken die Hand aus, weil es unsere Identität ist.

 

 

Rainer X

Oh Boris. Ich muss leider gestehen, dass ich ein bisschen streberartig vorgearbeitet habe – die nächsten Abschnitte also getextet, bevor gestern Abend dein letztes Pong kam. Aber, wie wundersam: irgendeine Instanz kollektiver Weisheit hat deine Gedanken wohl schon übermittelt, bevor sie sich in deiner jüngsten E-Mail manifestierten. Hier also meine finalen Ausführungen zu unserem Tete-a-Tete vor unserem virtuellen Kamin:  

 

Ich glaube, ich würde die Coda unseres Duetts gerne abschließen, indem wir uns vollständig über unsere Rollen erheben – oder unter ihnen hindurchtauchen, je nachdem – und die Frage ‚wie lebt man?‘ in aller Schlichtheit und Größe als die Person/en beantworten, die wir am Beginn und am Ende des Tages ja sind. Also, welches sind meine sehr persönlichen Maßstäbe, nach denen ich sie beantworte? An denen ich mich selbst messe und bereit bin, mich messen zu lassen? „How do I argue my case when it comes to the final reckoning at the High Court of Judgement Day?”

 

Dort sind übrigens keine Verteidiger zugelassen. Selbst Bernie Madoff der vor Kurzem im Zuchthaus verschied und hienieden stinkereich war, kommt dort nicht mit 237 Anwälten durch. Trump auch nicht, nicht mit der zehnfachen Anzahl. Vor Gott, so sagte man früher, sind wir alle gleich. 

 

Die Hitliste meiner persönlichen Maßstäbe jedenfalls, zu diesem Augenblick meiner karmischen Laufbahn, ist zusammengefasst diese:

 

1) Eine Form von Verbundenheit mit allem Seienden, und mit dem Urgrund, aus dem alles kommt und in den alles geht. Ich feiere sie in zweierlei Hinsicht: In jedem Moment meines Wachseins und meines Träumens in einem Kanal meiner peripheren Aufmerksamkeiten. Und in Ritualen der Bewusstheit, also in täglichen Zazen-Meditationen. Also streng genommen immer. Versprochen. 

 

2) Ein verantwortliches Management meiner persönlichen und unpersönlichen Beziehungen zu meinen lieben Mitmenschen, welche unsere unentrinnbare Verwobenheit würdigt, aber auch unsere Freiheit ermutigt, feiert und fordert – vom Willkommen über die Gestaltung bis zum Abschied. Versprochen.

 

3) Einem Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus folgen, der mich in die Erlaubnis und die Pflicht nimmt, auf all das produktiv/kreativ/innovativ zu antworten. Sicherstellen, dass ich über einen Raum und eine Zeit für diese Einsamkeit verfüge – denn ich glaube daran, dass Kreativität in der Einsamkeit gedeiht. Dem folge ich täglich. Versprochen.

Das also ist mein feierliches Gelöbnis an mich selbst, meine Eltern, meine Peers und meine Kinder – und an unseren gemeinsamen Urgrund (welchen Namen auch immer er/sie/es bevorzugt). Dieses Gelöbnis ist jederzeit zitierfähig. Etwas Viertes kommt hinzu:

 

4) Wenn ich merke, dass ich im Angesicht dieser Selbstverpflichtung wiederholt versage, dass ich dies als Information zum Thema „Hallo? Ist da jemand? Braucht die Frage ‚wie lebt man?‘ jemand" zur Kenntnis nehme. Vielleicht steht gar eine Neubesetzung meines inneren Tanzorchesters an?“

Dies ist konkret nicht jederzeit und überall zitierfähig. Kann sein, dass ich den Außendienst meiner persönlichen PR-Abteilung gerade eine Klausurtagung verordnet habe: Watch this space! 

 

5) Und dann – danach mach ich wirklich für den Moment Schluss, versprochen – kommt mir jetzt unabweisbar Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Ein weltweiter Bestseller. Bronnie Ware  hatte viele Jahre Hospizarbeit hinter sich, bevor sie als schöpferisches Ergebnis eines eigenen Transformationsprozesses dieses Buch veröffentlichte: eine ergreifende Dokumentation innerer Dialoge zu unserem Thema, in dem Wissen, dass es zu spät ist, das Resultat dieses Dialoges noch in Taten umzusetzen.

 

Hier also die Top 5: 

1) Hätte ich nur den Mut gehabt, mein Leben nach meinen eigenen Maßstäben zu leben, und nicht nach den Erwartungen der anderen …

2) Hätte ich nur nicht so viel gearbeitet … 

3) Hätte ich mir nur erlaubt, meine wirklichen Gefühle auszudrücken …

4) Hätte ich nur die Beziehungen zu meinen Freund*innen mehr gepflegt … 

5) Hätte ich mir nur erlaubt, glücklicher zu sein … 

 

Was ich mit all dem sagen will: es könnte sein, dass die Antwort auf die Frage ‚wie lebt man?‘ sehr viel mit der auf die Frage ‚wie stirbt man?‘  … Hallo?  Ist da jemand? Ich mein ja nur …

 

 

Boris X

Ich habe noch keine persönliche Formulierung für die von Dir unter Punkt 1-3 adressierten Problemstellungen gefunden - muss ich noch ran. Und Zazen kann ich auch noch nicht… oh Mann!

 

Dass die Antwort auf die Frage ‚wie lebt man?‘ sehr viel mit der auf die Frage ‚wie stirbt man?‘ zu tun hat, erkenne ich an dem Impuls, zu letzterer mindestens genauso viel schreiben zu können, wie zum Leben. Wir waren ja schon einmal dran, weiter oben im Text, wo es um „den Deal“ ging, gut leben, früher sterben oder schlecht und dafür länger leben. Und mit dem „Deal“ geht es auch um die Frage nach dem Sinn und der Qualität des Lebens, der gesellschaftlich geforderten „Mindestlebensdauer“, etc. Wir kommen spät erst, im Nachgang, auf diese Fragen zurück, aber nun soll es für kurze Gedanken und Anmerkungen aus meiner langjährigen Zeit in der Klinik, der Intensivstation und dem Rettungsdienst und den vielen Menschen, die ich dort habe sterben sehen, reichen.

 

Zunächst ein dringender Rat: Wer heutzutage am Ende seiner in Würde und Weisheit erlebten Tage in Frieden sterben möchte, sollte dies beizeiten juristisch wasserdicht absichern lassen. Mit einer Patientenverfügung und einer Vorsorgevollmacht für eine nahestehende Person des absoluten Vertrauens, die in einem Moment, in dem man seinen Willen selbst nicht mehr äußern und vertreten kann, eben diesen Kraft der Vollmacht behauptet und durchsetzt. Sonst kann es passieren, dass man abgeholt wird, von pflichtbewussten Menschen in rot-weiß lackierten Transportern, die einen auf die Intensivstation bringen, wo pflichtbewusste Ärzt*innen gemäß des Auftrages der modernen Ethik alles tun, um das Leben zu erhalten, mit allen Mitteln, und sei es nur für weitere 76,2 Stunden, und damit das tun, was er oder sie eigentlich nicht wollte. Wir brauchen für den letzten Ernstfall eine vorherige juristische, notarielle Beglaubigung. Da staunt der Laie, und der Schamane wundert sich!

Heute schwebt über den Ärzt*innen (angeblich) das Damokles-Schwert der strafbewährten Handlung für den Fall der Unterlassung von Hilfeleistung. Dabei ist die Unterlassung, so sie denn plausibel begründet ist - eine ärztliche Handlung. Dafür braucht es Mut, Erfahrung, Selbstbewusstsein, Zuversicht und die innere Gewissheit für die richtige Entscheidung im Sinne eines Anwalts des Patienten.

 

Nach unseren Maßstäben (die in der antiken Heilkunde ganz andere waren) ist es ureigenste ärztliche Aufgabe, alles zu tun, um das Sterben eines Menschen zu verhindern, so wie es aktuell unter Corona landauf, landab im Dreischichtbetrieb passiert. Im Krankheitsfalle einer 38-jährigen Mutter von zwei Kindern besteht hier nicht der geringste Zweifel. Wie oft jedoch hat mich die 88-jährige Urgroßmutter gebeten, sie gehen zu lassen, während Kinder und Kindeskinder ihr die Zurechnungsfähigkeit absprachen und mir mit Schimpf und Schande drohten, für den Fall, dass ich der Bitte stattgebe. Wenn die Altvorderen sterben, stirbt auch ein Teil der Nachkommen, was diese verständlicherweise nur schwer ertragen. Daher macht es Sinn, sich beizeiten darüber zu besprechen. So mancher familiärer Zwist hat sich dabei wie von allein in Wohlgefallen aufgelöst.

 

‚Wie lebt man?‘, ‚wie hat man gelebt?‘ und ‚wie stirbt man?‘ stellen ein Kontinuum dar.

 

Wohl dem, der einen roten Faden hatte, an dem entlang sich alles entwickeln konnte.

 

 

... to be continued …

Boris Leithäuser

Rainer Molzahn



Aus-dem-Haus-Aufgabe

Gehe in deine Welt zurück. Tue irgendetwas anders. Denke daran: jedes kleine bisschen anders wirkt!

 

Zeit: 5 min ;-)

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Franz Iska (Freitag, 17 September 2021 10:30)

    Habt vielen lieben Dank ihr beiden für die Hingabe, die Mühe, das nicht aufgeben und dran bleiben. Dazu habe ich eine kurze ermutigende Geschichte von Momo Heiß gehört gestern: Wie der Kolibri den brennenden Wald löschte
    https://open.spotify.com/episode/3xTP7xgfK14rKFEmtFZbmr?si=5KQOHKcpTceeBc6_Q230RQ&dl_branch=1
    Es war schön euch zu folgen :)

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