Wie lebt man? - Intro

von Rainer Molzahn

Wie lebt man Intro

Kamingespräche zwischen erfahrenen Mitgliedern der ‚helfenden Berufe' zur Frage aller Fragen …

 

Ohne Zweifel leben wir in transformativen Zeiten. Corona will und will nicht aufhören: Alpha, Beta und Delta hatten wir schon, alle Welt wartet auf Lambda, und ich beginne mich zu fragen, wann der Virus wohl das ganze griechische Alphabet durchvariiert haben wird. Andererseits waren gerade die Fußball-Europameisterschaften, im Moment gehen die Olympischen Spiele in Tokio zu Ende, und wir alle spüren unser tiefes Bedürfnis nach körperlicher Nähe, Gemeinschaft und Party. Dass am besten alles wieder so wird wie es vor Corona einmal war. 


Und das heißt: Für jede*n von uns und für alle von uns aktualisiert sich gerade die Frage ‚wie lebt man?‘. Sie drängt darauf, sie impfdrängelt geradezu darauf, neu beantwortet zu werden. Dem wollen wir uns in dieser Blogreihe widmen.  

 

Ein Buch zu schreiben ist ein faszinierender und vielschichtiger Prozess. Ein innerer Dialog, der sich ständig darin aktualisiert, und vollendet, und wieder anstößt, dass man leere Seiten mit Zeilen füllt, die das Ziel haben, innere Dialoge bei denen anzustoßen, die diese Zeilen hoffentlich zur Kenntnis nehmen. Es beginnt sozusagen beim Horror Vacui , um sich über die schmale und unzuverlässige Brücke des kreativen Tangos mit dem Universum zu hangeln, um schließlich vorerst am anderen Ufer der schöpferischen Schwangerschaft in der heißkalten Hölle des öffentlichen Raums wiederzufinden: dort, wo sich kein Mensch für die Geschichte bis hierher interessiert, sondern nur das Ergebnis – und auch das meist nur, um es zu kritisieren, im ärgeren Fall lächerlich zu machen, im ärgsten Fall als Verrat zu brandmarken und rauszuschmeißen.

 

Das ist ziemlich genau der Grund dafür, dass es mich so elend lange Zeit gekostet hat, bis ich die Frage ‚wie lebt man?‘ in dieser Schlichtheit und Größe formulieren konnte. Es brauchte genau den Prozess, genau die Geschichte, die ich oben angedeutet habe. Es geschah im Schreiben von ‚Transformatives Coaching – ein Weg zu Freiheit und Kreativität, zu Wirksamkeit und Verantwortung‘.

 

Sie war nicht von Anfang an da, sondern entfaltete sich nach drei Jahren kreativen Tangos ungefähr im Sommer 2019. Ein Jahr vor der Veröffentlichung. Ein halbes Jahr vor COVID-19. Zart zunächst, aber zusehends unverschämter outete sie sich als genau die Frage, bei deren Beantwortung das Transformative Coaching versucht, individuell zu helfen. In dem Wissen, das sich diese Frage weder nur individuell stellt noch ausschließlich individuell zu beantworten ist – dass aber jede neue Antwort bei uns als Personen beginnt. 

 

Dann, Anfang März 2020, kam Corona. Eine epochale kollektive Krise. Ich konnte ihre Ankunft gerade noch im Epilog des Buches – und im Lichte der Konzepte, die sich mir im Schreibprozess gezeigt hatten – würdigen, mit begründeten Ahnungen darüber, wie diese Krise uns in allen Beziehungsfeldern fordern würde, einschließlich unserer Beziehung zur Existenz.

 

Seitdem kämpfe ich damit, ob und wie ich das einstweilige Ergebnis meiner schriftstellerischen Heldenreise, die Frage ‚wie lebt man?‘, in unserer öffentlichen Wildbahn präsentiere, oder vielleicht lieber doch nicht, aber eigentlich unbedingt … Ich bin nicht feige, aber solange der öffentliche Diskurs über das Leben nach der Pandemie davon dominiert wird, dass alles wieder so wird wie vorher, nur eben ohne Corona, und mit erneuertem und vitaleren Wachstum, bis der Arzt kommt, solange ist die Befürchtung nicht unrealistisch, ignoriert, lächerlich gemacht oder entlassen zu werden. 

 

Deshalb habe ich das Forum der Kamingespräche gewählt. Das Konzept geht zurück auf den amerikanischen Präsidenten F.D. Roosevelt, der sich zuerst auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1933 (das Jahr, in dem Hitler zum deutschen Reichskanzler gewählt wurde) auf diesem Wege an das amerikanische Wahlvolk wandte, um eine faschistoide Antwort auf die ökonomische Pandemie abzuwenden und für seinen ‚New Deal‘ zu werben. Im Unterschied zur globalen Krise 1929-33 ist die des Jahres 2020-202X nicht nur unmittelbar ökonomisch. Sie ist viel tiefergehend, weil sie nicht nur unser wirtschaftliches, sondern zugleich unser biologisches, psychologisches und spirituelles Wohlergehen infrage stellt. Kein Wunder, dass im Moment die Idee eines ‚Green New Deals‘ in unser öffentliches Bewusstsein vordringt! Das hat mich ermutigt und aufgefordert, die Frage nach dem ‚wie lebt man?‘ nicht nur in meiner eigenen, persönlichen Praxis zu verfolgen, sondern eben im Zwielicht zwischen den privaten und öffentlichen Sphären, als Kamingespräch: nicht einfach nur persönlich, und nicht einfach nur in den Rollen. Danke, FDR, und danke, AER!  

 

Und tatsächlich, in den letzten Monaten, Wochen und Tagen taucht die Frage ‚wie lebt man?‘ immer häufiger und mutiger in den Mainstream-Medien unseres Kulturkreises auf. Im Januar 2021 erschien im englischen Guardian eine Besprechung des Buches ‚Everything Must Change – The World After Covid-19‘ mit Beiträgen von Noam Chomsky, Slavoj Zizek, Yanis Varoufakis, Brian Eno und anderen. Vor wenigen Monaten, um Ostern 2021, widmete sich die New York Times exakt dieser Frage in einem Bericht über Menschen, die sich dazu bekannten, nicht mehr weiter leben zu können oder wollen wie vor der Pandemie: ‚How To Live?‘ 

 

Die zentrale Idee der Blogreihe von Kamingesprächen zu dieser Frage ist es, Meister und Meisterinnen der sogenannten ‚helfenden Berufe‘, also Ärzte, Psycholog*innen und andere zusammenzubringen, weil wir sozusagen auf dem Empfänger-Ende durch unsere Klientinnen, Patienten und Kundinnen mehr oder weniger direkt mit der Frage konfrontiert werden. Und weil wir aufgerufen sind, bei der Antwort zu helfen, selbst und gerade, wenn sie nicht in der Kürze und Klarheit gestellt wird. 

 

Den Anfang mache ich in einem Dialog mit Boris Leithäuser – Arzt, Kardiologe, Angiologe und Psychotherapeut. Boris und ich kennen uns seit ca. 35 Jahren. Was uns qualifiziert und ermutigt, den Fireside Chat dieser Blogreihe miteinander zu beginnen, ist die Tatsache, dass wir beide in den Achtzigern Mitglieder einer Gala-Band waren. Mucke. Er am Saxofon, ich an der Gitarre. Gala-Mucke heißt, man macht demütige Tanzmusik, echte Dienstleistung, bis hinab zur ‚Tischmusik‘ (das ist leises Gedödel, während die Gäste speisen), – aber mit Kummerbund, weißem Jackett und Fliege, und mit Zugriff auf Hausbedienstete, freien Alkohol und die erotischen Fantasien der Tänzer*innen. Die Requisiten hab ich übrigens immer noch, für den schlimmsten Fall. Man weiß ja nie … 

 

Dieser Beziehungsmythos befreit und ermächtigt uns, nicht einfach nur von Rolle zu Rolle, von Psychologe zu Mediziner zu sprechen, sondern von Person zu Person. Das ist, wie ich glaube, genau die Erlaubnis und die ästhetische Disziplin, die es braucht, um ein Lagerfeuergespräch zu führen. Im Zwielicht zwischen den öffentlichen und privaten Sphären. Exponiert, aber nicht ausgeliefert. 

 

Der Plan ist, dass wir unsere Kamingespräche immer mehr für weitere Angehörige der helfenden Berufe öffnen, denn wir möchten eine Vielfalt von Perspektiven einladen, unter einer qualifizierenden Einschränkung: uns interessiert vor allem der Gedankenaustausch zwischen Menschen, die ihr Kunsthandwerk gemeistert haben. Und die so frei sind anzuerkennen, dass wir alle immer wieder blutige Anfänger*innen in der Meisterung des individuellen und sowieso des kollektiven Lebensprozesses sind. Resiliente Spätentwickler*innen, im besseren Falle … 

 

Die Dramaturgie, soweit wir sie voraussehen können, soll sich an den 5 Akten des klassischen Regeldramas orientieren, oder auch an den Phasen des 5-Grenzen-Prozessmodells. Beide sind ästhetische Ordnungsprinzipien menschlicher Erfahrung.

 

Technisch gesehen fand der Dialog zwischen Boris und mir, den pandemischen AHA-Regeln folgend, als Ping-Pong-Freizeitsport per Email statt. Da lässt sich der Informations-Bedeutungs-Prozess gut verlangsamen …


Kommentar schreiben

Kommentare: 0

1x im Monat kommt der Wandel in dein Postfach

mit Inspirationen und Veranstaltungstipps.

 

Melde dich gleich an: