Woran klammern wir uns

von Peggy Kammer

Woran klammern wir uns

Ich liebe den Wind hier im Norden.

Wenn mein Kopf voll ist mit allerlei Zeugs, lass ich mich so gerne durchpusten. Es fühlt sich jedes Mal an wie eine Grundreinigung. 

 

Alles, was sich verhakt hat, kommt in Bewegung. 

 

Allerlei Verfeststeckungen werden so lange angepustet und aufgewirbelt bis sie sich auflösen. Die Dinge kommen wieder in Fluss. 


Manchmal stelle ich mir vor, dass jeder einzelne meiner Gedanken sich in einem Ding im Außen zeigt:

in einem Blatt oder Steinchen, in einem Sandkorn oder einem Regentropfen, einem kleinen Zweig oder einem Blütenblatt.

Der Wind wirbelt sie herum und sie landen woanders.

 

Das Bild verändert sich ständig. Ich kann es beobachten. Und ich kann atmen. 

 

* * * * *

 

Beim „Klammern“ muss ich immer an Wäsche denken.

Man hängt die einzelnen Teile feinsäuberlich auf die Leine und befestigt sie, so dass der Wind sie nicht davontragen kann.

 

Die Kleidungsstücke haben ein bisschen Spielraum, wackeln mit den Armen und Beinen, aber sie können sich nicht wirklich bewegen. Sie hängen ja fest.

 

Ich habe keine Klammern. Wenn ich die Wäsche zum Trocknen auf den Balkon hänge, besteht immer wieder die Möglichkeit, dass der Wind sie davonträgt. Ziemlich verwegen, was 😉? 

 

Aber natürlich hänge ich die Wäsche nicht raus, wenn der Wind zu stark ist. Und meine Lieblingsteile sind immer in der Mitte - da, wo der Wind kaum Angriffsfläche hat. 

 

Mit der Wäsche ist es wie mit alten Gewohnheiten.

Ein kleiner Strumpf darf ruhig mal auf den Boden fallen oder sogar im Wirbel des Windes entschwinden. Das Lieblings-Shirt aber werden wir immer behüten. 

 

* * * * *

 

Das, was wir gewohnt sind zu sein, zu denken, zu tun, zu haben, ist wie ein Korb Wäsche. 

Würdest du ihn in den Sturm stellen? 

 

Unser Lebensstil ist dieser Korb, ist die Wäsche darin.

Und: Er ist der Sturm.

 

* * * * *

 

Von der Bezeichnung "Umweltverschmutzung" über "Klimawandel" sind wir heute bei den Begriffen "Klimakrise" und "Klimakatastrophe" angelangt. Man bemerkt die Steigerung, die eine größere Dringlichkeit zum Handeln impliziert. Und trotzdem: die Benennungen bringen es nicht auf den Punkt, vor welcher Herausforderung wir tatsächlich stehen.

 

Wir befinden uns in einer Krise unseres Lebenswandels. Wir haben eine Lebensstil-Krise. (Und keine passende Therapie dafür.) Ja, das Wort ist groß, mächtig. Aber es ist das einzige Wort, das wirklich passt.

 

In der letzten Wandelpost hatte ich bereits unser aktuelles Projekt angeteasert. Stichwort: Menschenpflichten. Und heute kannst du den ersten Teil unseres schriftlichen Dialoges verfolgen.

 

Vielleicht magst du ein paar Gedanken mitnehmen nach Draußen und den Wind damit spielen lassen ...

 

 

>>> Und hier geht's zur Wandelpost. 


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Kommentare: 1
  • #1

    Raphael (Mittwoch, 21 Dezember 2022 13:38)

    Vielen Dank – wieder einmal – für die Wandelpost! Erstaunlich, dass eine Email so eine lichtvolle und wärmende Wirkung entfalten kann – und dabei ist sie noch nicht mal an mich persönlich gerichtet. Auch habe ich bisher nur zwei Beiträge weiter erkundet, es warten gleich andere Verpflichtungen an diesem Morgen. Dennoch möchte ich Euch schon jetzt ein großes Danke schicken: an Dich Peggy, für das wunderbare Wäschebild von der Anhaftung und an Dich, Rainer, für Deinen Text übers Chorsingen. Erst gestern Abend habe ich nach langer Zeit selbst wieder einen Chor live gehört. Ein paar Weihnachtslieder, auch ehrlicherweise eher mittelmäßig in der Performance und doch waren die Sänger*innen mit solcher Freude dabei, dass es mich tief berührt hat und das weitgehende Fehlen gemeinsam-mehrstimmigen Singens in meinem Leben mir wieder sehr deutlich bewusst wurde. Dann habe ich heute Morgen Deinen Text gelesen und The Crossing gehört, das wird lange nachklingen.

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