Die Welt im Monat September: Quo vadis Europa?

von Rainer Molzahn

Die Welt im Monat September - Quo Vadis Europa

Der September wurde da, wo ich lebe, also in Mitteleuropa, unvermindert dominiert von einer Vielzahl von Ereignissen, die im Allgemeinen mit Begriffen wie ‚Flüchtlingskrise‘ oder ähnlich zusammengefasst werden.

 

Ich hatte darüber in der ‚Welt im Juli‘ nachgedacht, unter der Perspektive, woher die Flüchtlingsströme überhaupt kommen und wer und was sie auslöst.

 

Heute möchte ich die Perspektive umkehren und betrachten, was bei uns hier im Auenland Europa durch sie ausgelöst wird.


Flüchtlingsströme und europäische Krise

Um es kurz und knapp zu machen: Europa ist in einer dicken Krise, vielleicht der dicksten seit seinem Bestehen als Europäische Union. Jean-Claude Juncker, luxemburgischer Kommissionspräsident der EU, fasste seine deprimierende Diagnose ihres Zustand kürzlich so zusammen: „Es fehlt an Europa, und es fehlt an Union.“ Recht hat er.

 

Eigentlich ist die EU ja in einer Dauerkrise, und Grexit, Brexit, Schmexit gibt es auch nicht erst seit gestern. Noch nie hat eine Herausforderung aus dem Außen, der wir alle in Europa gleichzeitig und gemeinsam ausgesetzt sind, unser Selbstverständnis aber so akut und unabweisbar herausgefordert wie der andauernde und weiter anschwellende Zustrom von Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten der Dritten Welt (die wir ganz überwiegend erst zu Krisen- und Kriegsgebieten gemacht haben).

Armseliges Geschacher

Mitte des Monats fand mal wieder eine Krisensitzung auf höchster politischer Ebene statt, mit dem Versuch, ein gemeinsames Verständnis über die Verteilung von Flüchtlingen über alle Länder der EU hinweg zu erreichen - siehe Flüchtlingsquoten. Mit Ach und Krach erreichte man einen Verteilungsschlüssel für 120 000 Menschen – ein, so Sigmar Gabriel, „Tropfen auf den heißen Stein“.


Vier osteuropäische Länder verweigerten sich komplett: Ungarn, Polen, Slowakei, Tschechien. Deutsche Versuche, ein bisschen mehr Druck zu machen, wurden mit Empörung zurückgewiesen, nicht nur von den Adressaten, sondern auch von vielen anderen EU-Vertretern. Die Deutschen müssen sehr aufpassen, nicht zu stark aufzutreten, sonst erhebt sich ganz schnell das Gespenst einer deutschen Hegemonie in Europa, und das auch nicht vollkommen zu Unrecht. Das Ganze bietet ein Bild des Jammers.

Was ist eigen, was ist fremd?

Überall in Europa werden wieder Grenzzäune hochgezogen.

Überall wird ganz persönlich, wird lokal, regional, national und natürlich auch europäisch die Frage prozessiert nach dem, was eigen und was fremd ist. 

 

Manchmal fängt das Fremde schon an der eigenen Haustür an,

 

oder an der Gemeindegrenze, oder im nächsten Bundesland. 

Diese Auseinandersetzung polarisiert sich mehr und mehr. In Katalonien etwa fanden im September die Wahlen zum Regionalparlament statt. Sie wurden deutlich gewonnen von den Parteien, die für eine Abspaltung von Spanien eintreten. Katalonien ist natürlich keine benachteiligte Region, sie ist die wohlhabendste des Landes, und sie mag mehrheitlich nicht mehr mit den anderen teilen.


Auch hierzulande  erleben wir diese Dynamik in der Polarisierung zwischen dem lieben, weltoffenen Deutschland mit seiner Willkommenskultur und dem hässlichen, fremdenfeindlichen Deutschland, das Gebäude abfackelt, die zur Unterbringung von Flüchtlingen bereitgestellt werden.


Aus Schweden, dieser Ikone der liberalen Menschlichkeit, dem Land, das neben Deutschland zu den begehrtesten Destinationen für Asylsuchende in Europa gehört, wird berichtet, dass rassistische Aktionen und Ausfälle häufiger werden. Die ‚Partei der schwedischen Demokraten‘, die ihre Wurzeln im Nationalsozialismus hat und dafür bekannt ist, Minderheiten wie Juden, Schwarze, Flüchtlinge und Muslime zu dämonisieren, wurde laut einer Umfrage im September zur populärsten Partei.

Was ist unsere Identität?

Es gibt kein Entrinnen. Niemand von uns kann sich der Auseinandersetzung mit dem, was eigen ist und was fremd in unserer globalisierten Welt, entziehen. Wenn die Welt in einer transformativen Krise ist, sind wir alle mit der Frage nach unserer Identität konfrontiert. Wir können nicht dieselben bleiben. Nicht als Personen, nicht wir als Mitglieder unserer Gemeinschaften und Nationen, und auch nicht wir als Europäer.

 

Deshalb brauchen wir ganz dringend einen großen europäischen Dialog über das, was Europa in diesem Jahrhundert sein soll. Die Flüchtlingsströme werden nicht abebben.

Wer wirbt für Europa?

Was mir in diesem Dialog (wenn man das denn so benennen möchte, was im Moment ausgetauscht wird) ganz auffällig fehlt, sind Stimmen, die überzeugend für die Idee Europa werben und eintreten, immerhin eine der besseren Ideen der Weltgeschichte! Überzeugend für Europa eintreten ist etwas anderes als das Herunterbeten der wirtschaftlichen Vorteile, die gerade wir als Exportnation haben vom freien Zugang zu Märkten und so weiter.


Dies und ähnliches war ja in den letzten Jahrzehnten das Standardargument, um den Deutschen und auch allen sich um eine Mitgliedschaft bewerbenden Nationen die EU schmackhaft zu machen. Schon lange frage ich mich, ob bei so etwas nicht nur eine Schönwettergemeinschaft herauskommen kann, die auseinanderfällt, wenn es mal ernst wird.

Die Welt im Monat September

Für Europa einzutreten heißt für eine Welt einzutreten, die auf die Menschenrechte, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, auf die Vernunft und die gesellschaftlichen Mechanismen friedlichen politischen Wandels gegründet ist. Und die es uns als Personen zutraut, diese Welt zu gestalten. Wenn das nicht attraktiv ist!

 

Wenn ich aus einem verzweifelten und gebeutelten Land irgendwo in der Welt flüchten müsste, ich glaube, ich würde versuchen, irgendwie nach Europa zu kommen.


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Kommentare: 3
  • #1

    ju (Donnerstag, 15 Oktober 2015 17:11)

    Karl Marx meinte "neulich":

    Zitat:
    "Den Kapitalströmen werden die Menschenströme folgen."

    das haben wir nun, komisch eigentlich, das es so lange gedauert hat.

  • #2

    ju (Donnerstag, 15 Oktober 2015 17:12)

    warum steht da unten 1 inkl. MwSt?
    kommentar ist netto.

    typisch Kapitalismus..

  • #3

    Rainer (Freitag, 16 Oktober 2015 14:42)

    Guter Mann, Marx! Wovon er, gut für ihn, leider für uns, noch nichts wusste, ist, wie sehr unser Wirtschaften die Erde ruiniert. Ressourcenknappheit war noch kein Thema, die Erde unser Selbstbedienungsladen ohne Kasse. heute folgen die Menschenströme nicht mehr nur dem Kapital, sondern ergießen sich in jedes Flüsschen, das Wasser führt ...

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